Überall Veränderung, Transformation, Zerstörung. Wir erleben es aktuell besonders deutlich in der Politik. Junge Wähler in Deutschland haben bei den Europawahlen die großen Volksparteien abgestraft. Statt sich mit den Fragestellungen von Zukunftsthemen wie Klimawandel, Bildung und Wirtschaftsethik auseinanderzusetzen, geben Spitzenpolitiker zumeist überholte Antworten auf immer Gleiches wie Flüchtlingspolitik, Rentenniveau und Außensicherung der europäischen Grenzen. Das gilt auch für viele Unternehmen. Bei ihnen dreht sich alles um Wachstum, Gewinnmaximierung und Fachkräftemangel. Nur wenige experimentieren mit Selbstorganisation von Teams, neuen Bezahlmodellen oder ethischen und nachhaltigen Kennzahlen.

Genug ist genug!

Die wütenden Reaktionen – vor allem auf Twitter – auf die hilflosen bis maßregelnden Äußerungen von profilierten Politikern – und nicht zuletzt der Rücktritt von Andrea Nahles – zeigen sehr deutlich: Genug ist genug! Heute interessiert sich niemand mehr für Antworten, die an der Spitze einer hierarchischen Organisation ausgerufen werden und von loyalen Mitgliedern bzw. Mitarbeitern durchdekliniert werden müssen. Altkluge Antworten, von oben herab verordnet wie ein Rezept von einem Arzt, der seinen Patienten noch nicht einmal untersucht, geschweige denn mit ihm reden mag.

Besserwisserische Bevormundung passt nicht in unsere disruptive, super vernetzte und sich immer schneller verändernden Welt. Realitäten können beim besten Willen nicht mehr passend gemacht werden wie in den Jahrzehnten zuvor. Engagierte Menschen, die sich für Transformationen einsetzen, können nicht mehr marginalisiert werden. Weil es einfach zu viele geworden sind! Die starre Interpretation von Weltgeschehen nach überholten Maßstäben haben wir lang genug ertragen. Es ist höchste Zeit für neue Perspektiven.

Neue Fragen erfordern neue Antworten

Wissenschaftler*innen, zukunftsgewandte Politiker*innen und Menschen, die die Realität mit offenen Augen wahrnehmen, sind sich einig: Es muss endlich Schluss sein mit „Haben wir immer so gemacht!“ und „Weiter so!“. Heute können Andersdenkende nicht mehr ungestraft marginalisiert und ‚zur Räson‘ gebracht werden.

Im Gegenteil: Je weniger die betroffenen Anspruchsgruppen gehört werden, desto lauter schreien sie. Vielleicht ist deshalb der Empörungssturm sozialliberal denkender Menschen besonders groß. Ihre Meinungsmacher*innen und Influencer*innen, die bisher geschwiegen haben, ergreifen endlich das Wort. Sie fordern wie Nico Lumma (SPD) in einem Gastbeitrag der „Hamburger Morgenpost“ beispielweise neue Köpfe, die neue Themen auf die politische Agenda setzen: „Die SPD muss jünger und weiblicher werden. Auf die Karriereplanung ihrer Parteispitze kann sie dabei keine Rücksicht nehmen.“ Oder mehr Zuversicht und eine erkennbare parteipolitische Haltung, wie es die schleswig-holsteinische Kultusministerin Karin Prien (CDU) in einem Gastbeitrag für „Der Tagesspiegel“ formuliert.

Wie aktive Bürger*innen, die wie Margrethe Vestager auf der #rp19 uns Europäer*innen dazu auffordert, mit unseren Daten vorsichtig umzugehen: „If you protect yourself you protect our democracy“. Oder eben Thomas Knüwer, der in seinem aktuellen Blogpost deutlich aufzeigt, dass gerade die klugen und differenziert denkenden und mutig handelnden Journalist*innen die Medienbranche verlassen.

Selbst Juso-Chef Kevin Kühnert wird dafür Respekt gezollt, dass er in seinem ZEIT-Interview außerhalb des üblichen Politframings denkt und mit der demokratischen „Kollektivierung von Unternehmen wie BMW“ nichts anders als alternative Ownership-Modelle von Konzernen fordert.

Sie alle sind sich in einem Punkt einig: Die sich verändernde Welt braucht nicht nur neue ANTWORTEN auf bekannte Fragen. Sie benötigt vor allem neue FRAGEN, die wir als EU-Bürger*innen oder einfach nur als engagierte und wache Menschen diskutieren sollten. Nur so können wir mittelfristig sinnvolle Antworten finden – auf neuen Wegen, mit neuen Methoden, gemeinsam und in gelebter Diversität. Gerade die Anerkennung von unterschiedlichen Perspektiven und der respektvolle Umgang mit Andersdenkenden ist ein hohes demokratisches Gut. Es ist an der Zeit, auch in der Mitte der Gesellschaft zu akzeptieren, dass das Andersdenken eben anders ist, aber nicht falsch. Im Gegenteil. Es ist notwendig!

Vom „Know it all“ zum „Learn it all“

Große und komplexe Themen wie Klimaschutz, die Vereinbarkeit von Kindern und Karriere oder der Umgang mit Künstlichen Intelligenzen erfordern offene Fragen, Mut zur Intuition, Sinnorientierung und Pausen zum Nachdenken, damit wir beim Innehalten die richtigen Antworten in uns finden können. Sie erfordern eine gemeinsame Suche und eine offene Einstellung gegenüber dem, was kommen mag. „Purpose“ und „Growth Mindset“ sind Stichworte hierfür, die ebenfalls aus dem New-Work-Kontext entliehen sind.

In den USA wird von einer neuen Psychologie für Erfolg gesprochen. In der es darum geht, dass Kindheitserfahrungen und Glaubenssätze unser zukünftiges Handeln bestimmen, und wie wir uns von ihnen befreien können. Eine wichtige Lösung ist ein „Growth Mindset“, einen Wachstumsinn, zu entwickeln, also offen zu sein für Neues und jeden Tag dazu lernen zu wollen.

Diese Art von Kulturveränderung wird in fortschrittlichen Unternehmen bereits gelebt. Ein bekanntes Beispiel liefert Satya Nadella, CEO von Microsoft, der seine Mitarbeiter*innen dazu aufgefordert hat, den „Refresh Button“, den Aktualisierungsknopf auf einer Tastatur, zu drücken und sich vom „Know-it-all“ zum „Learn-it-all“ zu entwickeln. Auch in der zeitgemäßen Leadership-Forschung gelten Entscheider dann als besonders erfolgreich, wenn sie keine Besserwisser sind, sondern gemeinsam mit ihren Teams, und sogar mir ihren Kund*innen unterstützt von KI Lösungen suchen.

Take that, SPD, CDU, FDP & Co!

Wenn Navis und Landkarten nutzlos werden

Immer, wenn sich Rahmenbedingungen ändern, müssen wir unser Handeln anpassen. Immer, wenn eine Lage unübersichtlich ist, sollten mehrere Wege parallel getestet werden bis sich herausstellt, welcher Weg im Moment als der Passende erscheint.

Entscheidungen sind entweder richtig oder Learnings, postete kürzlich Simon Sinek, der bekannte US-amerikanische Marketingmann und New Work-Vordenker, sinngemäß auf Instagram. Denn was im Alltag gilt, gilt auch für Politik und Wirtschaft: Wenn unsere Navis und Landkarten nicht mehr zeitgemäß sind, legt man sie zur Seite und ersetzt sie vorübergehend mit gesundem Menschenverstand. Oder man fragt andere, die sich besser auskennen, nach dem Weg. Solange eben, bis mittels KI ein neues orientierungsgebendes Device gefunden wurde.

Heute gehören viele Falk-Pläne in Politik und Wirtschaft auf den Müll. Sie sind nicht mehr Wert als Altpapier. Warum? In Zeiten der rasanten Veränderungen müssen wir mit neuen Parametern Erfolg finden. Auch wenn wir unsere Wirtschaft jahrzehntelang im Finetuning von Prozessen professionalisiert haben. Auch wenn unser Können durch Gütesiegel bestätigt und damit unser wirtschaftliches Handeln normiert und geeicht wurde. Das reicht nicht mehr. Es kommen neue Anforderungen dazu: sich vernetzen, gemeinsam mit anderen Lösungen finden -auch über Unternehmens- und Parteigrenzen hinaus-, win-win zu leben und bewusst gegen die strukturelle Benachteiligungen von Frauen, Diversen und Menschen aus anderen Kulturen, mit weniger Bildung und körperlichen oder seelischen Einschränkungen anzugehen.

Junge Menschen, die noch nicht durch klassische Unternehmenskulturen eingenordet sind, und diejenigen, die sich dem bewusst widersetzen, sind heute gefragt. „Querdenker“ werden sie genannt und als solche auf „New Work“-Festivals gefeiert. Sie sind zumeist intelligent, wissbegierig und arbeiten nicht mehr als unbedingt nötig. Dafür entwickeln sie Shortcuts, Cheats oder Hacks, mit neuen Methoden und digitalen, teilweise KI-basierten Tools. Sie fragen sich zu Recht, warum die Anderen, also der Mainstream, das nicht auch tun? Genervt stellen sie fest, dass diese Anderen die zumeist mit dem Mindset von „alten, weißen Männern“ die Welt interpretieren, glauben, es besser zu wissen. Die Erfahrung, sagen sie, gäbe ihnen Recht.

Es ist also nicht nur die Angst vor Neuem, der Verlust von Ansehen und Macht, sondern auch ein mangelndes Vorstellungsvermögen von dem, was sonst noch, auch in ihrem Sinne, nach ihren Glaubenssätzen, vernünftig funktionieren kann. Deshalb ist es so wichtig, dass alle, die etwas verändern wollen – und das wir müssen es unbedingt! -, Wege finden, wie man diese Menschen überzeugen kann.

Neue Narrative braucht das Land

Die gute Nachricht ist: Mit Sinnorientierung, Phantasie und Kreativität werden wir die Zukunft gestalten können! Wir alle, die wir die VUKA-Welt (VUKA = volatil, unberechenbar, komplex, ambigue) nicht nur als Bedrohung, sondern vor allem als Chance verstehen. Die wir erkennen, dass Digitalisierung und Globalisierung kein böser Schicksalsschlag sind, dem wir hilflos ausgeliefert sind.

Auch die VUKA-Welt kann und muss von uns Menschen GESTALTET werden. Wir, die wir das wissen, sind gefragt, um Orientierung zu bieten. Denn wenn wir jetzt nichts tun, übernehmen digitale Großunternehmen oder gut vernetzte Rechtspopulisten diesen Job. Um unserem Wirken eine größere Kraft zu verleihen, brauchen wir „Neue Narrative“. Narrative sind Basiserzählungen, die an den Glaubenssätzen und Werten von Menschen einer bestimmten Kultur andocken und diese in eine unerwartete Richtung weitererzählen. Sie berühren das Denken und Fühlen von Menschen, können damit ihr Verhalten beeinflussen und nachhaltig verändern.

Ihre Christiane Brandes-Visbeck