Wer sind wir? Und warum brauchen wir die anderen, auch wenn das, was sie tun, uns gar nicht gefällt? Weil wir nur dann glücklich sind und gut arbeiten können, wenn wir im „Flow“ sind.

Ich weiß ja nicht, ob es Sie interessiert, aber vor einigen Tagen habe ich meinen ersten Leserbrief zu dieser Kolumne bekommen. Der Absender schreibt: „Ich bin eher zufällig über Ihre Kolumnen gestolpert. Eine äußerst treffende und realitätsnahe Beschreibung der Themen.“ Yay! Es gibt tatsächlich Menschen, die meine in Worte gefassten Gedanken lesen. Gern lesen sogar.

Meine Freude über das Feedback führt mich zu meinem aktuellen Thema. Wer sind wir? Und warum brauchen wir die anderen, auch wenn das, was sie tun, uns gar nicht gefällt? Professor Gerald Hüther, Leiter der Zentralstelle für neurobiologische Präventionsforschung an der Universität Göttingen, formuliert das so: „Man wüsste nicht, wer man ist, wenn man sich nicht vergleichen kann.“ Okay. Und was hat das jetzt mit Digital Leadership zu tun, denken Sie jetzt vielleicht. Vertrauen Sie mir und lesen Sie weiter – ich werde Ihre kostbare Zeit nicht vergeuden.

Sich etwas erstudieren
Hatte ich schon einmal erwähnt, dass ich eine Vorlesung über „Soft Skills und Leadership“ gebe, für junge Erwachsene, die sich berufsbegleitend ihren Master-Abschluss erstudieren? Und obwohl es das Wort „erstudieren“ nicht gibt, verwende ich es doch mit Absicht. Denn „sich etwas erstudieren“ definiere ich anlog zu „sich etwas erarbeiten“: Sich etwas mühevoll erschließen, mit dem Einsatz von Willenskraft, Ideenreichtum in der Arbeitsorganisation und durch Umdenken etwas eigens schaffen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie kompliziert das ist.

Da steht diese „Professorin“ (nach meiner Erfahrung sind Lehrbeauftragte in der Uni-Hierarchie maximal „Hilfsprofessoren“) und erwartet, dass sich die Studierenden ein Thema auswählen, dass sie interessiert und sie in ihrem beruflichen Alltag weiter bringt. Entweder als junge Führungskraft oder im Umgang mit ihren „Chefs aus der Hölle“. Wie viele E-Mailwechsel wir führen und Offline-Dialoge vor Ort nötig sind, bis jede/r sein/ihr Thema gefunden hat, es wissenschaftlich aufbereiten kann, auch wenn es noch nicht viele bzw. aussagefähige Forschungsergebnissee dazu geben sollte. Sich traut, es selbstbewusst und mit Überzeugung vor Kommilitonen zu präsentieren. Und dann, Sie glauben es nicht, ist die Vorlesung rappelvoll. Alle sind da (auch wenn ihnen gerade gekündigt wurde oder die Ehefrau kurz vor der Entbindung steht), um zu hören, was Laura, Tobias, Angelo und Kristina vorzutragen haben. Und wie kreativ manche sind bei der Weitergabe ihrer Erkenntnisse, wie lebhaft sie die anschließenden Diskussionen vorantreiben. Die selben Studierenden, die sich sonst freuen, wenn sie nach einem langen Arbeitstag mal etwas früher von der Vorlesung nach Hause zu kommen, vergessen die Zeit. Einmal musste uns gar der Hausmeister freundlich bitten, den Raum zu verlassen. An einem Freitagabend kurz vor 22 Uhr!

Läuft bei dir!
Warum ich das schreibe? Weil wir nur dann glücklich sind und gut arbeiten können, wenn wir im „Flow“ sind. „Flow“ ist ein moderner englischer Begriff, der eine Situation beschreibt, in der wir mit uns zufrieden sind, uns geradezu glücklich fühlen. Wenn uns das, was wir tun, mit so viel Leidenschaft erfüllt, dass wir Raum und Zeit vergessen. Eben dann, wenn andere zu recht sagen: „Läuft bei dir!“ Einer der Studierenden sagte kürzlich: „Wenn man das mit der Führung begriffen hat, hat man das Leben verstanden.“

Flow kommt nicht oft vor in unserem Leben. Und schon gar nicht in unserer Arbeitswelt. Flow kann man nicht kaufen, nicht mit Titel und Status erwerben oder gar verordnen. So wie eine Führungskraft auch nicht ansagen kann: „Jetzt sei mal zufrieden und lächle!“

Keep smiling!
Ich weiß das deshalb so genau, weil ich vor vielen Jahren einen Workshop für Mitarbeiter eines Vergnügungsparks gegeben habe, in dem ich ihnen beibringen sollte, freundlicher zu gucken. „Keep smiling!“ nennen die Amerikaner das. Doch was ist, wenn Menschen aus ihrer Sicht nichts zu lachen haben? Wenn sie sich als Saisonkräfte schlecht bezahlt fühlen, vom Arbeitgeber zu wenig gesehen, geschweige denn anerkannt? Wir haben in dem Seminar darüber gesprochen, später auch mit dem Arbeitgeber, der es tatsächlich gut mit seinen Mitarbeitern meinte. Die Wahrnehmung seiner Leute hat ihn sehr nachdenklich gestimmt hat. Wir in Deutschland haben es nicht so mit Lob und Anerkennung.

Als Chefs fühlen wir uns vor allem wichtig, wenn wir Ansagen machen, kritisieren können und alles besser wissen. Und die regelmäßigen Leser dieser Kolumne wissen es bereits: So sollte das beim Digital Leader gar auf keinen Fall sein. Digital Leader sind disruptiv, innovativ, visionär, sozial hoch kompetent und entschlossen. Doch warum ist es dann so schwer für uns, Individualität wertzuschätzen, für andere das Beste zu wollen, uns über ihre Erfolge und Sichtbarkeit mitzufreuen – kurz: Menschen in ihrem Flow auszuhalten?

Freude am Entdecken und Gestalten
Der eingangs erwähnte Neurobiologe und Hirnforscher Gerald Hüther hat aus seiner wissenschaftlichen Arbeit – aus meiner Sicht – überraschende Erkenntnisse abgeleitet: Hier erfahren Sie mehr über seine aktuelle Radikalkritik an Schule und Gesellschaft.

Seine These: Die Freude am Entdecken und Gestalten wird jedem Kind von Geburt an mitgegeben. Dabei ist das Lernen ein lebendiger Prozess, der in Beziehung zu anderen Menschen stattfindet. Irgendwann wird diese intrinsische Lust am Lernen gebrochen, das Kind wird zum Produkt der elterlichen und gesellschaftlichen Erwartungen. In dieser Phase spürt es, dass es nicht richtig ist.

Befinden sich unsere Unternehmen tatsächlich im Krieg?
In Hüthers Theorie ist es kein Subjekt mehr, es wird als Objekt behandelt. Jetzt fragt sich das Kind: Wie komme ich hier wieder raus? Wie kann ich mich wieder verstehen und eine Beziehung zu anderen aufbauen? Da gibt es zwei Lösungen: Das Kind, dass sich wehrt und „blöde Mama!“ sagt, wird selbst manipulativ, in dem es der Mutter zeigt, dass es besser ist als sie. Andere Kinder kommen aus der Nummer raus, in dem sie sagen „okay, ich bin dumm“ oder „ich bin hässlich“ und damit die zugewiesene Rolle des Objekts annehmen.

Das heiß, unser gesellschaftliches Beziehungsmuster besteht darin, dass wir selbst oder andere uns auf ein Objekt reduzieren. Diese Funktion ist relevant, wenn eine Gesellschaft bedroht wird. Wenn sie sich beispielweise im Krieg befindet und es sich somit nicht leisten kann, dass jemand ausschert und anders reagiert als die Masse. Doch ist das heute noch so? Befinden sich unsere Unternehmen tatsächlich im Krieg? Müssen wir schon in Kindergarten und Schule selektieren, wer als Arbeitssoldat tauglich ist – und wer nicht? Nach welchen Kriterien wählen wir überhaupt aus? Nach Hautfarbe, Herkunft und Habe?

Menschen in ihre Größe bringen
Zum Glück gibt es zunehmend mehr Menschen, die das eingeschränkte Lebenskonzept von der ständigen Angst vor Abwertung und der Bedrohung vom gesellschaftlichen Ausschluss nicht mehr akzeptieren mögen. Eltern, die ihre Kinder alternativ lernen lassen. Unternehmen, die, wie zum Beispiel die Deutsche Bahn, sich bei Einstellungsverfahren Menschen ansehen und nicht Schulnoten. Organisatoren einer Social Media Week, von Barcamps und Meetups, die Menschen dabei unterstützen, ihr Potential zu heben und mit dem, was sie können und begeistert, sichtbar zu werden. Auch dafür steht Diversity. Für eine Vielfalt, die dem Menschen an sich gerecht wird, die sie anregt, Neues zu wagen und nach vorne zu sehen. Überall heißt es, unsere Wirtschaft benötigt engagierte Mitarbeiter, die kreativ sind, die Verantwortung übernehmen und freundlich sein können. Doch das machen sie nur, wenn es ihnen gut geht.

Also, sehr verehrte Leserinnen und Leser, Schluss mit dem Chef aus der Hölle! Versuchen Sie mal, Menschen in ihre Größe zu bringen. Nehmen Sie jeden einzelnen Ihrer Mitarbeiter wahr. Entdecken Sie nur eine einzige, klitzekleine Sache, die diese Person liebenswert macht und mit der sie Ihren Respekt verdient. Inspirieren Sie sie, erfreuen Sie sich am Erfolg und dem Glück Ihrer Mitarbeiter. Und wenn Sie es auch nur eine Woche ausprobieren, sind Sie mein Held.

Machen Sie’s (wieder) gut. Bis es wieder heißt: Thank God, it’s Leadership Monday.

Ihre Christiane Brandes-Visbeck